„In Orschel nur, in deiner Erd,
legt mich zur ewgen Ruh.“
Erinnerung an die Deportationen im Juni und August 1942
Am 28. August 1942,
vor genau 80 Jahren, wurden Therese Heilbronn und Rosa Feinberg von Oberursel aus nach Theresienstadt verschleppt, ein Ereignis, das viele damals wie heute bewegt und beschämt.
Die beiden Schwestern waren in Oberursel geboren und aufgewachsen und haben zeit ihres Lebens im Haus am Marktplatz 7 gelebt. Sie hatten feste Wurzeln in ihrem Orschel.
Ihr Großvater, Simon Heilbronn, war einst aus dem Westerwald in die Taunusstadt gekommen und hatte sich dort eine Existenz aufgebaut. 1845 wurde hier sein Sohn Siegmund geboren. Zahlreiche Gräber der Familienmitglieder sind auf dem jüdischen Friedhof in Oberursel zu finden. 1871 erwarb Siegmund Heilbronn das Haus Marktplatz 7, am sogenannten Malerwinkel. Die Töchter Therese und Rosa wurden dort geboren, ebenso die Söhne Heinrich, er fiel im Ersten Weltkrieg als Soldat, und Adolf, dem als einzigem Mitglied der Familie die Flucht aus Deutschland gelang.
Siegmund Heilbronn betrieb in dem Haus eine 1877 gegründete „Essig-, Branntwein und Liquerfabrik“ und empfahl sich als „Gute Bezugsquelle für Rum, Cognac und Magenbitter“. Viele Oberurseler kauften bei den Feinbergs ein. Die Zeitzeugen, mit denen ich noch sprechen konnte, hatten lebhafte Kindheitserinnerungen an das Haus am Marktplatz und berichteten, dass sie beispielsweise bei den Feinbergs Matze erhielten. Das Andere, das Fremde, war für sie also nicht abschreckend und bedrohlich, wie Etliche vermuten, sondern eher spannend und faszinierend!
Rosa heiratete 1899 den aus Litauen stammenden Abraham Feinberg – in Dover, vermutlich aus ausländerrechtlichen Gründen. Ihre beiden Kinder Alfred und Sophie wurden 1901 und 1905 in Oberursel geboren. Sie besuchten die hiesige Oberrealschule bzw. das Lyzeum. Alfred sei der Kleinste und Klügste aus seiner Klasse gewesen, so ein Oberurseler. 1937 wurde Alfred Feinberg wegen einer angeblichen Unterschlagung verhaftet und war im KZ Buchenwald inhaftiert. Dort starb er 1939. Ein kleiner Gedenkstein auf dem jüdischen Friedhof erinnert an den tragischen Tod des Oberurselers. Wie die Lebenssituation der Familie damals aussah, erfahren wir aus einem Dokument aus dem hessischen Landesarchiv. Um den Grabstein finanzieren zu können, mussten Alfreds Eltern Möbel verkaufen.
Dass Alfred Feinberg tatsächlich straffällig wurde, ist eher unwahrscheinlich. Dies ergibt sich nicht nur aus dem Blick in seine Gefangenenakte, sondern auch aus der Tatsache, dass die Nationalsozialisten 1937/38 eine gezielte Kriminalisierungskampagne gegen Juden organisierten, die insbesondere Staatenlose betraf. Abraham Feinberg, der aus Litauen stammte, gehörte zu den sogenannten „Ostjuden“. Er hatte die deutsche Staatsbürgerschaft erworben, die ihm und damit der ganzen Familie jedoch 1934 wieder entzogen wurde. Daher waren alle Familienmitglieder, somit auch der Sohn Alfred, staatenlos geworden.
Seinen Essig- und Branntweinhandel gab Abraham Feinberg 1937 auf, ob aus Altersgründen oder durch den Druck des Umfelds, ist nicht bekannt.
Zunehmend verschlechterte sich die Lebenssituation der Familie, insbesondere nach dem Novemberpogrom. Bis zur Emigration des Bruders Adolf, der über Belgien in die USA fliehen konnte, hatten die Feinberg/Heilbronns noch Zuwendungen von ihm erhalten. Anfangs konnten sie noch in einem Geschäft in Oberursel in der Allee, damals Adolf Hitler-Allee, einkaufen, später nur noch in Bad Homburg, ein langer Fußweg für die älteren Herrschaften, denn öffentliche Verkehrsmittel durften die Familienmitglieder bald nicht mehr benutzen. Die Stedens, mit denen die beiden Frauen befreundet waren, halfen ihnen mit Lebensmitteln und stellten ihnen bei Luftangriffen ihre Kellerräume zur Verfügung, denn auch die Benutzung der öffentlichen Luftschutzkeller war der jüdischen Familie versagt.
Weitere Demütigungen erfuhren die Mitglieder der Familie durch die Abgabe von Gold und Silber durch eine Verordnung vom 3. Dezember 1938. Dabei handelte es sich weniger um Schmuck, als vor allem um religiöse Kultgegenstände wie Leuchter, Weinbecher oder ein Chanukkaleuchter. Schwerer als der materielle Verlust wog sicherlich der ideelle Wert dieser Gegenstände.
Nach der „Verordnung zur Kennzeichnung von Juden“ vom 1. September 1941 mussten die Familienmitglieder eine weitere Demütigung erfahren, denn sie mussten in der Öffentlichkeit den gelben Stern tragen.
Anfangs hieß es, Abraham Feinberg sei eines natürlichen Todes gestorben. Von Georg Steden konnte ich jedoch erfahren, dass er dem nicht so war. Abraham Feinberg sei 1942 von einer Oberurselerin in „die Bach“ gestoßen worden und sei an den Folgen dieses Angriffs gestorben.
Die Tochter Sophie sahen die Eltern nur noch selten, denn sie arbeitete im jüdischen Altersheim in der Wöhlerstraße in Frankfurt. Seit dem September 1941 war die Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln durch Juden stark eingeschränkt und durch neue Bestimmungen im April 1942 noch weiter verschärft.
Eine Vorstellung von der Persönlichkeit von Sophie können wir anhand eines Eintrags im Poesiealbum von Lotte Valetin, der Mutter von Manfred Kopp, erhalten:
„Schmeichle niemand, und lass dich nicht schmeicheln. (Mathias Claudius)
Zur freundlichen Erinnerung an deine Sophie Feinberg, Oberursel, den 6. April 1922“
Sophie Feinberg wurde mit dem ersten Transport aus Bad Homburg am 10. Juni 1942 „evakuiert“, wie die Deportationen umschrieben wurden. Sie wurde laut Einwohnermeldekarte „von Amts wegen“ ins „Sammellager Bad Homburg“ gebracht und von dort „in den Osten“ verschleppt. Laut Gedenkbuch des Bundesarchivs wurde Sophie Feinberg im Vernichtungslager Sobibor ermordet.
Mit dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 hatte die systematische Vernichtung der europäischen Juden unvorstellbare Dimensionen angenommen. In Frankfurt begannen die Deportationen am 19. Oktober 1941. Innerhalb eines Jahres wurden mehr als 10 000 Menschen aus bzw. über Frankfurt in die Konzentrations- und Vernichtungslager verschleppt und ermordet. Die Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 bestätigte den Massenmord und setzte ihn forciert fort.
Von der Kreisstadt Bad Homburg aus gab es zwei größere Transporte. Am 10. Juni 1942 wurden von Bad Homburg aus 26 Juden „nach dem Osten“ deportiert. Der zweite größere Transport von dort erfolgte am 28. August 1942. 28 Menschen aus Königstein, Kronberg, Oberursel und Bad Homburg wurden nach Theresienstadt verschleppt.
Überliefert ist hierzu ein Dokument im Stadtarchiv Kronberg. Danach richtete der Landrat des Obertaunuskreises am 24.8.42 ein Schreiben an die Bürgermeister der Vordertaunusstädte mit dem Hinweis „Sofort!“ Er ersuchte die Bürgermeister, „die hiernach in Frage kommenden Juden zu ermitteln und mir deren Namen zur Überprüfung fernmündlich bis zum 26.8. mitzuteilen.
Der Transport der Juden ist so einzurichten, dass die Juden am Freitag, den 28.8.42 um 1 Uhr im Hofe des Landratsamts eintreffen. Von den begleitenden Beamten sind die Schlüssel der Judenwohnungen und eine Liste in doppelter Ausforderung nach folgendem Muster mitzubringen: …“
Zu dieser Gruppe gehörten Therese Heilbronn und Rosa Feinberg. Das Einzige, was die beiden Frauen noch aufrechterhielt, war die Hoffnung, die bereits im Juni 1942 deportierte Tochter beziehungsweise Nichte Sophie wiederzusehen.
Die beiden Schwestern verließen Oberursel nicht unbemerkt. Sie verabschiedeten sich vorher von zahlreichen Nachbarn und Freunden. Ob sie einfach Abschied von den ihnen vertrauten Menschen nehmen wollten, ob sie auf das Unrecht, das ihnen angetan wurde, aufmerksam machen wollten, ob sie die Hoffnung hatten, den drohenden Abtransport damit noch verhindern zu können, wissen wir nicht. Die Schilderungen der Zeitzeugen vermitteln aber den Eindruck, dass sich dieser Abschied tief im Gedächtnis vieler Oberurseler eingegraben hat.
Am 28. August gegen Mittag wurden Therese Heilbronn und Rosa Feinberg abgeholt und liefen begleitet von „einem Mann in Uniform“ über den Marktplatz und durch die ganze Stadt zum Bahnhof. Die beiden Frauen hätten wieder und wieder ungläubig den Kopf geschüttelt und sich umgeschaut, als sie zum letzten Mal aus ihrem Haus und über den Marktplatz gingen. Therese Heilbronn wurde in Treblinka ermordet, ihre Schwester Rosa Feinberg starb am 16.9.1942 in Theresienstadt.
In einem Gedicht á la Stoltze „O mei Orschel“ hatte Rosa Feinberg folgenden Wunsch formuliert:
"Und wenn ich emol alt und mied
Soll schließe die Aage zu,
In Orschel nur, in deiner Erd
Legt mich zur ewgen Ruh."
Es schmerzt, dass dieser sehnliche Wunsch nicht in Erfüllung ging.
Mit dem Buch „Wir bleiben hier“ und dem Gedenkband „Haltet mich in gutem Gedenken“ bleiben sie in unserem Gedächtnis. Das Opferdenkmal am Hospitalplatz erinnert an die Menschen wie Rosa Feinberg, die hier nicht ihre „ewge Ruh“ fanden. Die Stolpersteine, die hier seit dem März diesen Jahres liegen, machen uns darauf aufmerksam, dass die Mitglieder das Familie Feinberg/Heilbronn aus unserer Mitte gerissen wurden.
Von Angelika Rieber
Verlegung der Stolpersteine am Marktplatz 7
Am 3. März 2022 wurden in Oberursel die ersten Stolpersteine verlegt. Mit dem Projekt Stolpersteine erinnert der Künstler Gunter Demnig an die Opfer der NS-Zeit, indem er vor ihrem letzten selbst gewählten Wohnort Gedenksteine aus Messing ins Trottoir einlässt. Inzwischen liegen Stolpersteine in 1.265 Kommunen Deutschlands und in 21 Ländern Europas. Ideengeber und Initiatoren für das Stolperstein-Projekt in Oberursel waren die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Hochtaunus (GCJZ) und die Feldbergschule.
Die ersten fünf Stolpersteine am Marktplatz 7, dem ehemaligen Wohnsitz der Familie Feinberg, wurden von Gunter Demnig gemeinsam mit Bürgermeisterin Antje Runge und Schülerinnen und Schülern der Feldbergschule verlegt, weitere Stolpersteine vor dem Haus in der Freiligrathstraße 11, dem ehemaligen Wohnsitz von Cäcilia Pagel, und in der Siemensstraße 3, dem ehemaligen Wohnsitz von Bertha Röder.
Mit einer Gedenkveranstaltung und der Enthüllung des von Jan-Malte Strijek künstlerisch gestalteten Stromkastens vor dem Haus Marktplatz 7 wird seit Sonntag, 28. August 2022, dem Jahrestag der Deportation im August 1942, in besonderer Art an das Schicksal der Schwestern Rosa Feinberg und Therese Heilbronn erinnert. Mit dem Versterben von Zeitzeugen benötigt die zukünftige Erinnerungskultur eine neue Ausrichtung. Der Erinnerungsort als Kunst im öffentlichen Raum erregt Aufmerksamkeit, macht Geschichte sichtbar und stellt so aktiv eine Öffentlichkeit her. Mit dem Gedenken über die künstlerische Auseinandersetzung wird das Leben und Schicksal der Schwestern aus der Anonymität geholt und das historische Wissen, auch für zukünftige Generationen, wachgehalten.
Das Kunstwerk von Jan Malte Strijek
Sein Hauptbetätigungsfeld ist die Erstellung von
großformatigen Arbeiten an Fassaden und anderen Objekten
im öffentlichen Raum. Hierfür verwendet er eine Mischung
aus Fassaden- und Sprühfarben. Kunst am Bau wurde im Laufe
der Jahre zu seinem Hauptbetätigungsfeld und zu seiner
Spezialität.
In Oberursel ist Jan-Malte Strijek kein Unbekannter mehr, denn er hat bereits mehrere Objekte künstlerisch gestaltet.
Eine seiner letzten Arbeiten war die Gestaltung von drei Kabelverteilerschränken am Historischen Marktplatz, mit der Geschichte der Familie „Milch-Nüchter“, im März dieses Jahres. Davor hatte der Streetart-Künstler in Oberursel bereits mehrere Objekte gestaltet - so beispielsweise die Trafostation am Bergweg, als auch mehrere Stationen mit den Stadtwerken Oberursel sowie den neu erstellten Calisthenics-Platz im Rushmoor Park.
Während jedes Objekt in seiner Lage und Gestaltung einzigartig ist, ragt die Gestaltung der Verteilerkästen am Marktplatz Oberursel für Strijek noch einmal besonders heraus: "Die Möglichkeit, im Rahmen dieses Projektes an ehemalige Bürgerinnen Oberursels, die deportiert wurden, erinnern zu können, ist eine immer aktuell bleibende, wichtige Aufgabe. Hier einen Beitrag zur Erinnerungskultur der Stadt leisten zu können, freut mich besonders", so Strijek.
Er beschreibt das Kunstwerk selbst folgendermaßen:
„Auf dem linksseitigen Verteilerkasten sieht man drei Personen, die sichtlich bestürzt über die Deportation der Geschwister sind. Diese Szene kann aber auch an das Motiv der drei Affen erinnern und als „Nicht sehen, nicht sprechen, nicht hören“ interpretiert werden.
Die sich wiederholenden Figuren im Hintergrund schauen ausdruckslos in die Richtung des Geschehens. Sie stehen symbolisch für den großen Teil der Gesellschaft, dessen Gefühlslage nicht erkannt werden (soll). Ob sich Angst, Desinteresse oder Übereinkunft in ihren Gesichtern spiegelt, lässt sich nicht deuten. In ihrer Passivität verhindern sie jedoch nicht das Schicksal der Schwestern.
Der Zwischenraum der die Kästen trennt, schiebt sich gleichermaßen zwischen die Schwestern und den Rest der Gesellschaft aus dem sie herausgerissen werden. Während die linke Seite voll Menschen ist, wird es auf der rechten Seite einsam.“
Mehr Informationen über den Künstler:
Weitere Informationen zu den Kooperationspartnerinnen und -partnern des Projektes finden Sie auf: