Der „Milch-Nüchter“ am Marktplatz in Oberursel
Stadtbekannt und ein Original, das war er, der „Nüchter-Schorsch“ oder auch „Milch-Nüchter“, wie er liebevoll in der Öffentlichkeit genannt wurde. Nicht nur die Älteren erinnern sich gut an die frische lose Milch, den Handkäse, die Butter, die blockweise verkauft wurde und die legendären Käseplatten, die nicht nur für Feierlichkeiten beim „Milch-Nüchter“ bestellt wurden. Lange bevor „Nachhaltigkeit und Unverpackt“ Schlagworte unserer Zeit wurden, gab es im Ladengeschäft Marktplatz 4 viele Waren des täglichen Bedarfs direkt in das mitgebrachte Behältnis. Morgens früh wurden die frischen Waren angeliefert, die Milch wurde z. B. kannenweise in den großen Tank mitten im Laden gegossen.
Dort wurde dann für den Kunden das kühle Getränk in die mitgebrachte Kanne abgefüllt. Besonders an den Markttagen, mittwochs und samstags, war der Laden voll Kundschaft, die sich mit frischen Molkereiprodukten eindeckten. Ein weiteres „Highlight“ war die „geschlagene Sahne“: Kinder auf dem Schulweg leckten, lange bevor der erste Eisladen in Oberursel eröffnete, an der „Sahne für 10 Pfennig auf dem Tütchen“. Hausfrauen kamen am Samstagnachmittag mit der Kristallschale, um die geschlagene Sahne für die Obsttorte zu holen. Auch die Mohnmühle war ein Renner in der Nachkriegszeit; konnte dort loser Mohn für allerlei Backwaren geholt werden.
Alles fing Mitte der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts an, als der „Milch-Nüchter“ noch von der Schulstraße aus mit Pferd und Wagen die frische Milch zur Kundschaft fuhr. Er ehelichte seine Sophie, drei Kinder (Georg, Otto und Maria) wurden geboren, Nazi-Herrschaft und Krieg veränderten auch das Leben der Familie Nüchter. Nach dem Krieg, der „Nüchter Schorsch“ war noch in russischer Kriegsgefangenschaft, wagte Sophie den mutigen Schritt und eröffnete den Milchladen im Haus Marktplatz 4. Es war nur ein kleiner Laden, mehr eine „Milchabholstelle“, die stundenweise am Vormittag geöffnet war. Erst in den Folgejahren kamen dann die weiteren Produkte wie Puddingpulver oder Nudeln zum Sortiment dazu. Alle Kinder mussten mithelfen, und so ging das auch weiter, als der „Nüchter Schorsch“ 1949 gesund aus Russland heimkehrte. Er musste sich in der „bundesrepublikanischen Wirklichkeit“ erst wieder zurechtfinden. Aber dann startete der Milchladen richtig durch. Die Kundschaft kam zu ihm an den Marktplatz. Wer etwas auf sich hielt, trank frische Milch. Bald langte der kleine Laden nicht mehr aus, denn auch das Sortiment hatte sich enorm vergrößert. Auch musste Platz für Lagerhaltung und das Anrichten der Käseplatten geschaffen werden. So ging der „Milch Nüchter“ zu seinen vielen Jahrgangskollegen, Nachbarn und Kunden und lieh sich überall Geld, um das Anwesen Marktplatz 5 dazuzukaufen. Und diese Investition lohnte sich für alle: Der Laden „boomte“, der „Milch-Nüchter“ war zu einer Institution im „Wirtschaftswunderland“ geworden. Und er nutzte seine Bekanntheit auch, um bei allem, was so um ihn herum vorging, mitzureden. Nicht umsonst hatte er den Beinamen „Marktplatz-Bürgermeister“. Er kannte alle, hatte für alle einen Rat und wusste Bescheid.
Die Kinder wurden größer, die Söhne lernten das Kfz-Handwerk beim „Weber Jean in der Eppsteiner Straße“, die Tochter Maria half im heimischen Laden. Alle wohnten nah beieinander, die ersten Enkelkinder wurden geboren. Und so hätte es eigentlich weitergehen können, wenn nicht die großen Supermärkte und „Abgepacktes in Plastik“ so große Begeisterung zu Beginn der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts hervorgerufen hätten. So traute sich keines der Kinder den Laden zu übernehmen. Er wurde verpachtet. Aber vielleicht fehlte dann der besondere Charme vom „Milch Nüchter und seiner Sophie“, so dass 1974/75 der Milchladen am Marktplatz endgültig geschlossen werden musste. Der „Milch-Nüchter“ aber lebte da schon im Haus Marktplatz 5 im ersten Stock, in dem schon der Maler Hans Thoma seinerzeit wohnte und arbeitete. Mit dem Blick auf St. Ursula war er immer noch an allem rund um den Marktplatz interessiert und ein wichtiger Ansprechpartner auch bei stadtpolitischen Fragen. In diese Fußstapfen trat dann sein ältester Sohn Georg, der als Stadtverordneter, Magistratsmitglied und Stadtältester jahrelang aktiv war.
Der „Milch-Nüchter“ sorgte noch einmal für Aufsehen und war in aller Munde, als er, knapp 80jährig, im Juli 1985 auf natürliche Art und Weise gemeinsam mit seiner geliebten Sophie verstarb. Ein „Doppelkreuz“ auf dem Hauptfriedhof, geschaffen von dem Oberurseler Künstler Georg Hieronymi, zeugte jahrelang von diesem ganz besonderen Lebensende.
Noch immer sind die Anwesen Marktplatz 4 und 5 in Familienbesitz. Maria Sterzel, geb. Nüchter, wohnt mit Ehemann im „alten Milchladen“. Das Haus Marktplatz 5 gehört der Enkelin Edeltraud Lintelow und wurde bis vor kurzem noch von 3 Generationen (Sohn Georg Nüchter und Urenkelin Miriam Lintelow) bewohnt. „Schön, dass wir die Geschichte vom „Milch Nüchter“ mit der tollen Idee der Syna und der Stadt Oberursel wachhalten können“, freut sich Edeltraud Lintelow. „Milch macht müde Männer wieder munter. Das war der Slogan der 60er Jahre. Heute braucht es mehr, um die Energie der Zukunft zu gestalten.“
Das Kunstwerk
von Jan-Malte Strijek
Jan-Malte Strijek ist ein bildender Künstler aus Frankfurt am Main.
Sein Hauptbetätigungsfeld ist die Erstellung von großformatigen Arbeiten an Fassaden und anderen Objekten im öffentlichen Raum. Hierfür verwendet er eine Mischung aus Fassaden- und Sprühfarben.
Für seine Leinwandarbeiten verwendet Strijek eine Mischtechnik aus Sprühlacken und Acrylfarben, die mit Pinsel und Airbrush aufgetragen werden. Mehr Informationen unter www.strijek.de .